Im Kern

Radikale Sanftheit

Ich stelle das Konzept der Radikalen Sanftheit ins Zentrum meiner Arbeit, weil es aus meiner eigenen Erfahrung mit der Dunkelheit gewachsen ist

 

Ich neige dazu, streng mit mir selbst zu sein. Ich will mich weiter entwickeln, besser werden, mehr erreichen, glücklicher sein. Ich habe viel Energie darin gesteckt, zu der Person zu werden, die ich sein wollte.

 

Mit meiner Krankheit wurde ich in ein schwarzes Loch geworfen und im Jetzt eingefroren, an einen Ort an dem das ganze Tun und Streben nichts mehr wert und relevant war. Die Welt abgesteckt vom Krankenhausbett.

 

Und dann hatte ich nur noch eine Möglichkeit: Aushalten was gerade da ist. Alles Verletzte, alles Unvollständige und alles Verlorene zu sehen. Und die unumstößliche Tatsache: Das ist jetzt so.

 

Die einzige Art mit mir selbst umzugehen, als ich nichts tun konnte außer aushalten, war, sanft zu sein mit mir selbst.

Wie sieht radikale Sanftheit aus?

Einen sanften Raum in sich selbst zu halten, in dem wir kompromisslos so sein dürfen wie wir sind, in dem alle Zerbrochenheit sein darf.

So können wir für uns selbst zu einem sicheren Ort werden.

 

Ein Anker, eine Ausrichtung, die mich immer wieder zu diesem Ort finden lässt. Ich habe Zugang zu diesem Ort der Sanftheit, egal wie wütend, verstört ich bin oder wie kalt und hart die Realität um mich herum ist.

 

Sanft sein, heißt, die Ambivalenz der Wirklichkeit zuzulassen. Ein Sowohlalsauch und ein Wedernoch. Radikale Sanftheit erkennt an, was ist.

 

Sanftheit kann für mich heute bedeuten, alle Termine abzusagen und mich unter der Decke zu verstecken. Und morgen, Beziehung und Austausch zu suchen um mich mit aller Verletzlichkeit zu zeigen.

 

Weil Sanftheit keine Regeln hat, sondern sich nur in Bezug auf meine Bedürfnisse gestaltet. Sanftheit ist frei von „Ich sollte“. Ich sollte mich besser um mich kümmern. Ich darf mich auch schlecht um mich kümmern, weil es manchmal nicht anders geht.

 

Je sanfter ich mit mir selbst wurde, desto leichter fiel es mir, Grenzen zu setzen. Dass sich beides nicht ausschließt, sondern bestärken kann, ist in diesem Zitat besonders anschaulich ausgedrückt:

„Your boundary need not be an angry electric fence that shocks those who touch it.

It can be a consistent light around you that announces: I will be treated sacredly.“

Jaiya John

Die Radikale Sanftheit ist dabei kein Mittel der Selbstoptimierung. Wir sind nicht sanft zu uns damit wir besser arbeiten, schneller gesund werden oder leistungsfähiger werden. Die Radikale Sanftheit ist „L’art pour l’art“. Sanftheit für Sanftheit. Sanftheit ist reiner Selbstzweck.

Warum muss es radikal sein?

Sanftheit darf radikal sein, weil sie jede Faser meines Selbst betrifft. Weil ich sanft gegenüber jedem Impuls und allen Anteilen sein darf, nicht nur gegenüber den selbstfürsorglichen.

 

Die Art wir ich mit mir selbst umgehe, prägt die Art, wie ich mit anderen umgehe.

Sanftheit kann umgekehrt auch in Beziehung wachsen. Immer wenn ich es nicht geschafft habe, sanft für mich selbst zu sein, dann suchte ich Trost bei anderen, die sanft zu mir sein konnten. Die mich in dem Licht sehen konnten, das ich selbst mir nicht geben konnte. Sie schenkten mir einen sicheren Ort, durch ihren Blick auf mich.

 

Die einzelne Person allein kann sich nicht selbst retten. Wir brauchen andere Menschen. Wir brauchen einen neuen gesellschaftlichen Blick auf Sanftheit mit uns und anderen. Machen unsere sozialen Strukturen Raum für eine heilsame Sanftheit?

 

Ich glaube: Wir brauchen mehr Orte der Sanftheit!

Für eine sanfte Welt.

Die Schultern auf denen ich stehe: Für mich prägende Bücher mit einem ausgewählten Lieblingszitat

 

1 Sonya Renee Taylor: Radical Self-Love

„There is no wrong way to have a body.“

 

2 Adrienne Maree Brown: Pleasure Activism – The politics of feeling good.

„Pleasure activism asserts that we all need and deserve pleasure and that our social structures must reflect this.“

 

3 Carl Rogers: Der neue Mensch

„Ich empfinde es als sehr befriedigend, wenn ich echt sein kann, wenn ich all dem, was in mir vorgeht, nahe bin.“

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